Der größte musikalische Künstler dieses Jahrtausends hat wieder zugeschlagen! Mit ehrfürchtiger Miene reagieren Musikliebhaber gemeinhin auf solche Statements, ehe sie zu der Erkenntnis gelangen, dass das aktuelle Jahrtausend erst überschaubare 18 Jahre zählt. Schmälern soll dieser Fakt den kometenhaften Aufstieg Kanye Wests zur Lichtgestalt jedoch keineswegs. 2001 betrat Yeezy erstmals den Klassikerpfad, als er die Produktion zu Bangern wie “Takeover” und “Izzo (H.O.V.A.)” auf Jay-Zs bestem Album “The Blueprint” beisteuerte. Der Rest ist Geschichte: Mr. West mag nie der beste Rapper auf dem Planeten gewesen sein, doch konnte er auf seinen Alben die Produktionen – oftmals zusätzlich inspiriert durch eine Vielzahl an Co-Producern – ganz auf seine Stärken zuschneiden. Nicht nur erfand er seinen eigenen Sound dabei mit jedem weiteren Album quasi neu, auch war er der restlichen Rapszene musikalisch häufig meilenweit voraus. Mit Autotune gepitchte emotionale Lyrics klingen zudem fast nirgends so schön und ergreifend wie auf weiten Teilen seines Werkes “808s & Heartbreak” (2008). Und musikalischer Wahnsinn hört sich selten so gekonnt wie auf “Yeezus” (2013) oder “The Life of Pablo” (2016) an.
Nun ist es 2018, und Kanye trumpt sich durch Twitter; er deklariert sich selbst zum großen Freidenker, erntet jedoch vorrangig Spott wie Unverständnis in der Community. But well, I don’t fuckin‘ care about that. Vielmehr kam in mir das große Kribbeln der Vorfreude auf, als ich erstmals von den Wyoming Sessions und dem dazugehörigen musikalischen Projekt erfuhr. Pusha T mochte ich schließlich bereits zu Clipse-Zeiten, der heilige Nas wartet ohnehin seit über 20 Jahren auf eine neue Ansammlung fantastischer Beats, Kid Cudi ist im Zusammenspiel mit Kanye gemeinhin nicht zu verachten (“Welcome to Heartbreak”!), und Mr. West selbst genießt seit dem 2010er-Meisterwerk “My Beautiful Dark Twisted Fantasy” mein Gottvertrauen. Sein neuester konzeptioneller Streich sah nun also eine Reihe an je 7 Tracks umfassenden Minialben dieser Künstler mit etwa 20–25 Minuten Laufzeit vor, die dem Volk in Livestreaming-Sessions präsentiert wurden.
Pusha T – “Daytona” ★★★★
Den Auftakt machte am 25. Mai der unverwechselbare Pusha T. Eigentlich hätte sein Album ganz anders klingen sollen, doch Mr. West setzte sich quasi Last Minute noch auf den Produzentenstuhl und änderte eigenmächtig die Beats ab. Das Ergebnis lohnt sich: Ye breitet seinem Schützling auf “Daytona” einen gewaltigen Soundteppich aus, auf dem dieser seinen smoothen Cocaine Rap knallen lässt, als wolle er ihn seinen Hörern direkt in die Venen injizieren. Verführerischer als King Pushs hungriger Flow auf “The Games We Play“, untermalt von einem Gitarren-Loop (samt Horn-Riff!), kann Hip-Hop 2018 kaum mehr werden. All Killer, No Filler lautet das passende Motto für die kompakten 21 Minuten, in denen dennoch genug Zeit bleibt, um zum Abschluss noch Drake auszuknocken. Dass Kanye extra tief in die Tasche griff, um für das “Daytona” -Albumcover ein Bild von Whitney Houstons letztem Crack-Badezimmer verwenden zu können, unterstreicht seinen kontroversen Charakter nur weiter.
Kanye West – “ye” ★★★
Als sein eigenes Artwork hatte er indes das Bild des für den Tod seiner Mutter verantwortlichen Schönheitschirurgen Jan Adams vorgesehen, was dieser jedoch mit einer Klage zu unterbinden wusste. Weitere Einblicke in Kanyes finstere Gedankenwelten liefert dafür sogleich der eindrucksvoll atmosphärische Opener, in dem der Rapper seine düsteren Verse über einem Gruselstimmen-Beat einspricht. Wenn der selbstverliebte Mr. West sogar bereits über Selbsttötung nachdachte, wie weit oben vermag dann erst der ungeliebte Jan Adams auf seiner imaginären Todesliste gestanden haben (“I Thought About Killing You“)? Ein Jammer hingegen, wie musikalisch uninspiriert die drei Tracks im Mittelteil vor sich hin dümpeln – womöglich wurden die Aufnahmen wirklich erst kurz vor Release zusammengeschustert. Dafür jedoch lässt Kid Cudis erstes Hallo in den Wyoming-Wochen schon Großes aufblitzen: Der beste Track des Albums – “Ghost Town“ – mag hoffnungslos überladen daherkommen, doch genau hieraus auch seinen unbestechlichen Reiz beziehen. Ein powervoller, gitarrendominierter Rhythmus dient als Instrumental und pusht den Track stetig nach vorn, bis er sich final in einem emotionalen Chorus von 070 Shake entlädt (“We’re still the kids we used to be, yeah, yeah / I put my hand on the stove, to see if I still bleed, yeah / And nothing hurts anymore, I feel kind of free“).
Kanye West & Kid Cudi – “Kids See Ghosts” ★★★ ½
Wesentlich spannender als Kanyes Soloalbum fällt aber tatsächlich die hierin vorausgedeutete Kollaboration Kids See Ghosts aus. Kid Cudi mag zwar nicht der begnadetste Sänger auf dem Planeten sein, allerdings transportiert er mit seinem Vortrag eine Sache mühelos: Gefühl. Cool, calm and collected präsentiert er sich auf dem Album, rehabilitiert träfe es noch präziser. “I’m so, I’m so reborn / I’m movin’ forward“, so eine Zeile der “Reborn”-Hook, “I had my issues, ain’t that much I could do / But peace is something that starts with me” ergänzt er wenig später. Schonungslos offen verarbeiten die beiden Künstler ihre mentalen Probleme, blicken dabei jedoch mit hoffnungsvoller Note auf den Status quo. Cudis Drogenmissbrauch gehöre der Vergangenheit an, und auch Kanye habe seine Dämonen hinter sich lassen können: “Lord shine your light on me, save me, please“, lässt er im fantastischen Schlusstrack “Cudi Montage” verlauten. Opium fürs Volk ersetzt bei ihm nun also die Opioide in Pillenform – das erscheint langfristig auch als die deutlich gesündere Strategie.
Nas – “Nasir” ★★★ ½
In letzter (Rap-)Mission zielte Mr. West in diesem Sommer schließlich darauf ab, seinem Kindheitsidol Nas ein würdiges Album aufzubereiten. Das erhoffte Meisterwerk bleibt beim Zusammenspiel der hippen Kanye-Beats und dem eher schematischen Rap-Vortrag des Altmeisters jedoch leider aus. “Cops Shot the Kid“ darf trotz vielfach gefeiertem Sample in seiner Redundanz genauso gut auch als penetrant für die Ohren empfunden werden, während die vielfach kritisierte Lahmarschigkeit der grundlos auf 7,5 Minuten aufgeblasenen Ballade “Everything” beinahe stärker schmerzt als die sechsjährige Wartezeit auf neuen Nas-Content. Doch neben den weiteren soliden Nummern sei uns ein großes Highlight trotzdem noch vergönnt: Die lässige Piano-Loop-Line paart sich auf “Adam and Eve“ so harmonisch mit Akustikgitarre und catchy Hook von The-Dream, dass auch Nas richtig aufblüht und sich locker-leicht durch den Track flowt.
So steht unter dem Strich ein bemerkenswertes Projekt aus dem Hause G.O.O.D. Music, das mit überwiegend hörenswertem Output die Erwartungen erfüllt, wenngleich sie nicht übertrifft. Doch wenn von einem Künstler auch in Zukunft noch Großes zu erwarten sein dürfte, dann natürlich von Kanye West.
– If you know, you know.